Interview mit Christopher End: Über das Elternsein

Elternsein als Weg

Elternsein als Weg 

Christopher End ist Therapeut, Coach, Autor und Vater von zwei Kindern. Das Elternsein sieht er als Weg auf dem er gemeinsam mit seinen Kindern wachsen darf. In seinem Eltern-Gedöns-Podcast, in Seminaren, Kursen und in Büchern teilt er seine eigenen Erfahrungen und unterstützt Eltern dabei die Verbindung zu ihrem Kind zu stärken. Ich spreche mit Christopher End über das Elternsein, über die Verantwortung der Eltern und wie man mit dem Thema Wut in der Erziehung umgehen sollte. Sein gerade erschienenes Buch „Elternsein als Weg“ zeigt Christopher End auf, wie Du gemeinsam mit Deinem Kind wachsen kannst, statt zu verzweifeln. 

Christopher, erzähl doch mal: Wie genau sieht Deine Arbeit als Coach für das Elternsein aus?

Christopher End: Meine Arbeit richtet sich in erster Linie an die Eltern. Ich möchte ihnen dabei helfen und sie dabei unterstützen die Verbindung zu ihrem Kind zu stärken. Dabei ist es mir wichtig, den Blick auf den Erwachsenen zu richten – weg vom Kind. Allein diese Perspektive reicht oft schon aus, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass die Verantwortung beim Erwachsenen und nicht beim Kind liegt. Allerdings rede ich hier nicht von Macht oder Machtmissbrauch, sondern allein um die Verantwortung. Wir alle kennen die Situation, dass ein Kind mal etwas macht, was es nicht soll. Wenn der Erwachsene erkennt, dass er allein für die Rahmenbedingungen verantwortlich ist, richtet er den Blick auf sich selbst und nicht auf das Kind. Dabei entstehen auch Fragen wie „Was hat das mit mir zu tun?“, „Welche Muster stecken dahinter, die den Konflikt in mir hochtreiben?“ und diese gilt es dann aufzuarbeiten.

Auch ein grundlegendes Wissen über kindliche Entwicklung ist sehr wichtig, denn in vielen Situationen kann ein Kind gar nicht anders reagieren, weil es vielleicht emotional überfordert ist und nicht allein aus dieser Lage herauskommt. Dieses Wissen kann helfen, um seine Haltung zu verändern und nicht in Gedanken festzustecken wie „Das Kind will seine Grenzen austesten“ oder „Das Kind manipuliert mich bewusst“.

Grenzen im Elternsein 

Frage: Wie setze ich einem Kind Grenzen, ohne es zu sehr in seiner Freiheit einzuschränken?

Christopher End: Der Grenzbegriff wird in Beziehungsthemen immer sehr radikal betrachtet. Eltern oder auch Autoren beschreiben Grenzen als etwas Unumstößliches, das unbedingt gewahrt und verteidigt werden muss. Dabei können sich Grenzen durchaus verschieben oder ein wenig auflösen. In der Politik sind Grenzen nie etwas Endgültiges, denn selbst an der nordkoreanischen Grenze fahren Menschen rein und raus. Wenn wir verstehen, dass sich Grenzen etwas auflockern können, entstehen daraus sanftere Beziehungen.

Setzen wir einem Kind Grenzen bedeutet es nicht, dass wir das Kind begrenzen, sondern es geht vielmehr darum, dass die Grenzen aller Beteiligten, also der Eltern, des Kindes, von anderen Kindern, von Geschwistern und so weiter gewahrt werden. Manche Eltern, die ihr Kind nach dem bedürfnisorientierten Ansatz erziehen möchten, glauben manchmal, dass das Kind auf keinen Fall begrenzt werden darf. Oft schwingen hier noch alte Schmerzen  des Elternteils aus der Kindheit mit, weil die eigenen Bedürfnisse nie erkannt wurden. Allerdings kann dieser Erziehungsansatz wie ein Pendel in die andere Richtung ausschlagen. Das Kind versteht dann nicht, dass es zum zwischenmenschlichen Leben dazu gehört, Rücksicht zu nehmen, woraus schlimme Folgen entstehen können: Kinder können sich nicht mehr konzentrieren oder werden „unbeschulbar“, weil sie beispielsweise nie gelernt haben, dass zu bestimmten Zeiten die Schulaufgaben Vorrang haben. Wenn immer das Kind bestimmen darf und es keine Grenzen gibt, ist es nicht daran gewöhnt, dass es Strukturen gibt und jemand Führung übernimmt.

Bedürfnisse im Elternsein 

Frage: Braucht denn wirklich jedes Kind diese Struktur?

Christopher End: Kinder sind genau wie Erwachsene alle sehr unterschiedlich, deshalb braucht es immer ein sehr individuelles Eingehen auf das Kind.

Das Wort „Grenzen“ hat was von Struktur setzen, dabei meine ich aber das Kommunizieren der eigenen Grenzen. Wenn wir Kinder zu etwas zwingen, ist das selten erfolgreich. Wenn wir uns als Elternteil aber selbst opfern und beispielsweise bis spät in die Nacht vorlesen, macht das auch keinen Sinn, denn das Kind merkt, wenn wir keine Lust mehr haben vorzulesen und registriert: „Da ist jemand, der tut etwas für mich, möchte aber eigentlich nicht.“ Das Kind lernt dadurch also, dass es wichtig ist für andere Menschen Dinge zu tun, die wir selbst nicht mögen. Dabei sollte dem Kind eher vermittelt werden, wie wichtig es ist die eigenen Grenzen zu wahren und gleichzeitig trotzdem füreinander da zu sein.

Um das zu erreichen, sollte immer nach dem Grundprinzip von Nora Imlau vorgegangen werden: Was brauche ich und was brauchst Du? Dabei schaut man als Elternteil auf seine eigenen Grenzen und Bedürfnisse und dann auf die des Kindes. Anschließend geht man mit dem Kind in Kommunikation und verhandelt.

Sobald die Idee entsteht, dass einer von beiden zu bestimmen hat, sind wir in der Macht und es entsteht eine Täter-Opfer-Abhängigkeit. Wenn Eltern bestimmen, weil sie die Autorität haben, sprechen wir von autoritärer Erziehung. Wenn das Kind bestimmt, ist es Laissez-faire.

In beiden Formen mangelt es an Halt und Angenommensein.

Manche Kinder können selbststrukturiert arbeiten und planen sehr gerne selbst. Andere sind eher spontan und planen weniger gern. Mit beiden Typen muss man anders umgehen. Wenn man als Elternteil seinen eigenen Plan über ein ohnehin schon strukturiertes Kind darüber stülpt, entsteht voraussichtlich Widerstand. Wenn man einem spontanen Kind keine Struktur vorgibt, kann es sein, dass es weder in der Schule noch in der Freizeit gut läuft. Eltern schauen also genau hin, gehen in Kommunikation mit dem Kind und geben die Struktur und den Rahmen vor, ohne die Bedürfnisse des Kindes zu übergehen.

Beziehungsarbeit im Elternsein

Frage: Wie schaffe ich es, dass sich das Kind gehalten und angenommen fühlt?

Christopher End: Eltern sollten ihre Bedürfnisse kennen und das Kind nach seinen fragen. Nur im Austausch durch Aushandeln und Verhandeln kann dann der gemeinsame Weg gefunden werden. Je älter das Kind wird, umso mehr verändert sich der Austausch. Als Baby kommuniziert das Baby noch nicht mit Worten, kann aber dennoch seine Bedürfnisse deutlich mitteilen: Ich will oder ich will nicht, indem es beispielsweise den Kopf abwendet, wenn es satt ist oder es weint, wenn es nicht mehr auf dem Arm sein möchte. In der Pubertät unterscheiden sich die Vorstellungen der Beteiligten oft sehr stark. Auch hier ist es wichtig in Beziehung zu gehen und seine Bedürfnisse zu kommunizieren. Hinter dem Satz der Eltern „Du musst um 10 zu Hause sein!“ steckt oft eine Sorge, dass das Kind keinen Halt bekommt, entgleist oder in der Schule nicht mehr mitkommt. Sobald man anfängt über seine Bedürfnisse zu sprechen und dem Kind die Bühne gibt auch seine zu kommunizieren, steckt man mittendrin in der Beziehungsarbeit.

Trigger und andere Verdächtige – so geht achtsames Elternsein

Frage: Wie unterstützt Du Eltern bei diesem Prozess?

Christopher End: Auf der ersten Ebene vermittle ich mit Kursen, Seminaren und meinen Büchern Wissen, das dabei helfen kann, ein tiefes Verständnis zu entwickeln.

Auf der zweiten Ebene zeige ich Methoden und Tools, die Eltern dabei unterstützen können sich mit ihrem Kind zu verbinden oder sich in Konfliktsituationen selbst zu beruhigen.

Die dritte Ebene stellt die eigene innere Arbeit der Eltern dar. Hierbei gehe ich gemeinsam mit ihnen Fragen nach wie „Wieso werde ich immer so ungeduldig?“, „Wieso triggert mich das so, wenn mein Kind nach der Schule auf dem Sofa rumhängt?“ oder „Wieso eskaliert es immer an dem einen Streit?“

Hierbei möchte ich erwähnen, dass Konflikte ganz normal sind, das gehört eben dazu. Achtsames Elternsein heißt nicht, dass alle auf Wolke 7 schweben, denn das ist eher gefährlich. Die Frage ist, ob mich die Konflikte wegschwemmen oder ob ich meine Grenzen ziehen kann. Schwemmt es mich weg, entgleise ich emotional, tue oder sage ich Dinge, die ich nicht sagen möchte bzw. von denen ich mir geschworen habe sie niemals zu sagen, sind das in erster Linie Hinweise darauf, dass da ein Trigger ist. Dann geht es in die innere Arbeit.

Wut – eine der am häufigsten unterdrückten Emotionen

Frage: Kannst Du uns noch was zu Deinem Elternkurs zum Thema Wut erzählen?

Christopher End: Gerne! Zunächst einmal sind alle Emotionen und das emotionale Erleben im Allgemeinen Teil unseres Menschseins. So wie Körperreaktionen oder Gedanken. Das sind Wege wie Du Dinge verarbeitest und wie Du Lösungen findest. Zum Beispiel hilft Traurigkeit beim Abschied nehmen und beim Loslassen. Das ist sehr wichtig und wertvoll, denn das Gefühl gibt Dir das Werkzeug an die Hand, um die Situation zu meistern.

Bleiben wir bei der Traurigkeit. Wenn Tränen fließen, fließt etwas von Dir ab. Die Gefühle gehen nach draußen und sind Teil der Kommunikation. Denn weint jemand, haben wir das Bedürfnis zu trösten.

Wut hingegen ist eher ein autonomes Gefühl, denn es geht darum, Deine eigenen Grenzen zu wahren. Wut gibt Dir die Energie, genau das zu verteidigen. Das nennt man Wutkraft. Diese ist uns allen angelegt, in Frauen gleichermaßen wie in Männern. Kommst Du in die Wutkraft, kannst Du andere stoppen oder sogar umbringen. Das ist leider manchmal notwendig, wenn wir beispielsweise bedroht werden. Es ist also ungünstig, diese Energie wegzumachen oder zu unterdrücken, weil wir in Notsituationen uns dann schwer tun in diese Power zu kommen.

Anders sieht es allerdings aus, wenn Du jemanden in Grund und Boden schreist. Das ist dann cholerisch. In dem Fall hast Du nicht gelernt, Deine Gefühle und Emotionen zu regulieren. Gerade bei Kindern, die in Kontakt mit ihren Eltern sind, kann man gut beobachten, wie sie lernen ihre Wut zu regulieren. Irgendwann ist das Bewusstsein für die Wut da, aber es wird nicht mehr gehauen, sondern nur noch „Blöde Mama“ gesagt. Damit beginnt die Regulation.

Wutanfall versus Regulation

Frage: Wie kann ich Kindern beibringen ihre Wut zu regulieren?

Christopher End: Wut ist nicht gleich Wutanfall. Das ist der 99. Stock von 100. Oft denken wir, Wut ist nur der Wutanfall, aber richtig wütend gibt es in 100 Abstufungen. „Nein, ich möchte das nicht, danke“ bedeutet 2% Wut. Ein klares „NEIN“ hingegen 5-10%. Die Wut kann hoch, aber auch wieder runtergehen. In einem Wutanfall hingegen bleibst Du bei Deinen 99% und kommst schwierig wieder ein paar Stockwerke runter.

Problematisch wird es, wenn Du immer im Wutanfall bist. Dann hast Du nicht gelernt Deine Wut zu regulieren. Kleine Kinder sollten zunächst einmal wütend sein dürfen. Auch hier ist anzumerken, dass Kinder sehr unterschiedlich sind. Gefühlsstarke Kinder brauchen einen Raum, in dem sie gefühlsstark sein dürfen und wo jemand für sie da ist. Über die Co-Regulation mit dem Erwachsenen, lernt das Kind sich zu beruhigen. Mit der Zeit lernt das Kind immer mehr, wie es sich selbst beruhigen kann. Gefühlsstarke Kinder werden allerdings immer etwas mehr ihre Wut ausleben als regulationsstarke Kinder. Allerdings werden sie nicht jedes Mal von der Emotion weggeschwemmt.

Angst, Tod, Krieg und andere Geheimnisse im Elternsein

Frage: Kann aus unterdrückter Wut eine Angst entstehen in Momente zu kommen, die das Gefühl „Wut“ wieder auslösen?

Christopher End: Wenn das Kind gelernt hat seine Gefühle wegzudrücken, die Wut dann durchschlägt und das Kind in einem Alter ist, in dem es sich bewusst ist, welche schlimmen Gedanken während der Wut entstehen, kann das Angst machen. Während einem Wutanfall wünscht man vielleicht jemand anderem den Tod und das Bewusstsein über solche schlimmen Gedanken, lösen mitunter Angst aus.

Vor allem der Tod wird in unserer Gesellschaft gerne weggedrückt beziehungsweise wenig thematisiert. Und wenn ein Kind dann Gedanken zum Tod während eines Wutanfalls hat und sich dessen bewusst ist, kann es sein, dass die Wut beim nächsten Mal gewollt unterdrückt wird, weil es gelernt hat, dass man an den Tod nicht denken darf.

Alles, was zum Leben dazugehört, sollte mit Kindern besprochen werden. Wichtig ist hierbei aber, dass das Kind immer individuell betrachtet wird. Zudem solltest Du immer kindgerechte Worte wählen, gerade wenn es um Themen wie Naturkatastrophen oder Krieg geht. Kinder haben ein Recht zu wissen, was in der Welt vor sich geht. Vor allem bei Grundschulkindern gehört eine kindgerechte politische Bildung dazu. Wichtig ist, dass die Erwachsenen da sind, um Halt zu geben.

Gerade ist Dein neues Buch erschienen „Elternsein als Weg“ – worum geht’s da?

Christopher End: Im Grund genommen geht es um das Elternsein. Vor allem geht es um die Frage „Wieso ticken wir wie wir ticken?“. Mit dem Buch sollen Eltern ihre Glaubenssätze, Verhaltensmuster und Trigger kennenlernen und einen neuen Umgang damit erlernen. Das Buch ist ein Praxisbuch und Journal in einem.

Konditionierungen – müssen oder wollen?

Zum Abschluss noch eine Frage: Wie komme ich dahinter, was erlernt ist und was ich in Wahrheit bin?

Christopher End: Das ist eine sehr große und schwierige Frage. Zunächst einmal solltest Du lernen in Dich einzufühlen. Oft können wir das nicht, weil die Konditionierung sehr stark sein kann. Der eigene Anteil fühlt sich dann eher unecht an, während die erlernte Konditionierung als die Wahrheit empfunden wird.

Der erste Schritt wäre vielleicht herauszufinden, wo Deine Sehnsüchte hingehen. Was ist in Deinem Leben ein „Müssen“ und was ein „Wollen“? Kinder lernen oft, dass man nicht zu wollen, sondern zu möchten hat. Im Grunde genommen trainieren wir damit unseren Kindern die intrinsische Motivation ab, nach der Welt zu greifen. Dabei ist das in uns allen angelegt und kann eigentlich nicht weggehen, denn das ist das ursprüngliche Autonome in uns. Jede autonome Entwicklung kommt aus dem Kind heraus. Die Mutter beziehungsweise die Eltern versorgen das Kind, aber Wachstum ist eine autonome Entwicklung.

Wollen bedeutet auch nicht, dass uns die anderen Menschen egal sind, denn sonst reden wir von Narzissten. Diese entstehen manchmal aufgrund einer rein bedürfnisorientierten Erziehung, bei dem das Kind nur seine eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen darf.

Ich komme also wieder zurück auf das Prinzip „Was brauche ich und was brauchst Du?“ – nur so funktioniert es für alle Beteiligten. Bedürfnisse kommunizieren und dann verhandeln: So erschafft man etwas Gemeinsames, ein gemeinsames Leben.

Danke lieber Christopher für das Interview, es ist mir immer wieder eine Freude, mich mit Dir auszutauschen. Und Dein Buch hat mich gestern im Briefkasten überrascht, ein unglaublich schöner, liebevoll gestalteter Ratgeber, der viel mehr ist als ein Buch. Es ist für mich ein Begleiter, der eigentlich in der Handtasche mit dabei sein sollte!